Menschlichkeit in der Altenhilfe und im Gesundheitswesen:
Sorgekultur, Autonomie und Würde in Caring Communities
In unserer Gesellschaft ist der Tod zum großen Tabu geworden. Während wir täglich mit Bildern von Gewalt und Katastrophen konfrontiert werden, bleibt der natürliche Sterbeprozess hinter Klinikmauern verborgen. Dabei zeigen Umfragen immer wieder: Über 65 % der Deutschen wünschen sich, in vertrauter Umgebung zu sterben – doch nur etwa 20 % ist dies vergönnt.
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Dieser Gap zwischen Wunsch und Wirklichkeit offenbart ein tiefgreifendes gesellschaftliches Problem: die Tabuisierung der letzten Lebensphase und die Anerkennung der eigenen Sterblichkeit. Von jeher haben wir uns als Menschen um unsere Alten und Kranken gekümmert. Es ist also Ausdruck reiner Menschlichkeit, niemanden allein zu lassen, der die Gemeinschaft am meisten braucht. Im Sterben erleben wir die radikalste Form der Abhängigkeit. In unserer nach Individualisierung und Perfektion strebenden Gesellschaft hat diese Vulnerabilität keinen Platz mehr. Vor dem Hintergrund, dass wir alle irgendwann mit dieser Situation konfrontiert sind und einander als Menschen brauchen, bietet z. B. „Letzte Hilfe“ eine Lösungsmöglichkeit an.
Die Letzte-Hilfe-Bewegung, die 2016 in Deutschland ihren Anfang nahm, setzt genau hier an. Sie verfolgt das Ziel, das Wissen über Sterben und Sterbebegleitung zurück in die Mitte der Gesellschaft zu holen – dorthin, wo es über Jahrhunderte selbstverständlich war.
Letzte Hilfe – mehr als nur ein Kurskonzept
Die Idee der Letzten Hilfe geht auf den erfahrenen Palliativmediziner Dr. Georg Bollig zurück. Inspiriert von seiner jahrelangen Arbeit mit Sterbenden entwickelte er ein Schulungskonzept, das Laien befähigt, Sterbende in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten.
Die vier Säulen der Letzten Hilfe:
- Sterben als natürlicher Prozess: Vermittlung von Grundwissen über die körperlichen und seelischen Veränderungen
- Vorausplanung: Bedeutung von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht
- Leid lindern: Praktische Handgriffe bei Schmerzen, Atemnot oder Unruhe
- Abschied nehmen: Umgang mit Trauer und spirituellen Bedürfnissen
Die Zahlen sprechen für sich: Über 102.000 Teilnehmende in Deutschland, mehr als 6.000 ausgebildete Kursleitende und eine stetig wachsende internationale Präsenz – etwa in Österreich, Brasilien und der Schweiz. Um das Angebot für alle Menschen zugänglich zu machen, werden die Kurse meist kostenlos von den erfahrenen Kursleitungen angeboten und sind in jeder Region in Deutschland präsent.
Caring Communities – wenn Sorge zur Gemeinschaftsaufgabe wird
Das Konzept der „Caring Communities“ (sorgende Gemeinschaften) geht noch einen Schritt weiter. Es basiert auf der Erkenntnis, dass eine humane Sterbekultur nur entstehen kann, wenn sich ganze Gemeinschaften ihrer Verantwortung stellen. In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Einen Kernaspekt dieser Frage stellt der Umgang mit den Schwächsten unserer Gesellschaft dar, d.h. wie wir auch mit Schwerstkranken, Sterbenden und den Menschen, die sich um sie kümmern und um sie trauern, umgehen. Dies ist die zentrale Frage hinter dem Konzept der Caring Community.
Beispiele gelebter Praxis:
- Nachbarschaftsnetzwerke: Ehrenamtliche übernehmen Einkäufe, helfen im Alltag oder bieten nur ihre Anwesenheit an.
- Generationsübergreifende Projekte: Schüler besuchen Altenheime, Kinder lernen in Kursen über den Kreislauf des Lebens, Senior:innen machen Schulfrühstück für Kinder oder helfen bei der Hausaufgabenbetreuung.
- Unternehmenskooperationen: Lokale Betriebe stellen Räume für Trauercafés oder Schulungen zur Verfügung, beteiligen sich praktisch durch Social Days oder Spendenaktionen
Vorreiter in Deutschland ist die Stadt Köln, die auf Initiative des Hospiz- und Palliativnetzwerks Köln und des Kölner Gesundheitsamtes die Stadt zur „Caring Community“ entwickeln will.
Ziel ist es, die Stadtgesellschaft im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer zu stärken und ihre Kompetenzen zu fördern. Dies ist weniger eine Frage für die Profis im Versorgungssystem, sondern vielmehr Gegenstand für uns alle: Wir müssen verstärkt die Bürgerinnen und Bürger für diese Themen mobilisieren. Viele Menschen verschließen die Augen vor der eigenen Endlichkeit. Das ist verständlich, und es darf auch nicht ein ständig präsentes Thema sein. Dennoch sollte mehr als bisher eine Grundkompetenz im Umgang mit diesen Themen vorhanden sein.
Die Würde des Sterbens – Autonomie bis zuletzt
Im Zentrum aller Bemühungen steht der Respekt vor der Autonomie des Sterbenden. Das Würdezentrum in Frankfurt bietet mit seinen Bildungsangeboten für professionell im Gesundheitswesen Tätige und für Bürgerinnen und Bürger Hilfe bei der Wahrung von Autonomie an:
1. Selbstbestimmung ermöglichen
- Individuelle Wünsche ernst nehmen (z.B. ungewöhnliche Essenswünsche)
- Entscheidungen über Therapiebegrenzung ohne moralischen Druck treffen
2. Ganzheitliche Begleitung
- Körperliche Bedürfnisse (Schmerzlinderung, Symptomerkennung)
- Seelische Nöte (Angstbewältigung, Lebensbilanz)
- Soziale Aspekte (Konfliktbewältigung, Rollenverlust)
- Spirituelle Dimension (Rituale, Abschiedsgestaltung)
3. Angehörige stärken
- Schulungen zu Letzte Hilfe
- Schulungen zur Ersten Hilfe in psychischen Problemlagen
- Autonomie stärken durch Beratung zur individuellen Vorsorgeplanung
- Trauerbegleitung über den Tod hinaus
Die Zusammenarbeit von professionell Pflegenden und Bürgerinnen und Bürgern in der Entwicklung einer Sorgekultur ist aus verschiedenen Aspekten alternativlos.
Laut der Bundesarbeitsagentur waren 2021 in Deutschland knapp 1,7 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig in der Pflege beschäftigt, bei ca. 5 Millionen Pflegebedürftigen. Diese Gesamtzahl schließt auch Fachkrankenpflegekräfte für Intensiv- oder Palliativpflege und Führungskräfte ein. Der Großteil der Pflegebedürftigen (über 3,1 Millionen Menschen) wird schon jetzt überwiegend von ihren An- und Zugehörigen versorgt und nicht durch professionell Pflegende.
Die demografische Entwicklung in Deutschland macht die zukünftigen Herausforderungen im Gesundheitswesen sichtbar: Etwa ein Drittel der Pflegekräfte ist unter 50 Jahren alt. Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland wird bis 2055 voraussichtlich auf 6,8 Millionen steigen. Die Anzahl der Pflegekräfte wird bis dahin aber durch altersbedingtes Ausscheiden deutlich gesunken sein. Es ist demnach einfache Mathematik: Professionell Pflegende werden die Generation der Baby-Boomer nicht ohne Unterstützung der Gesellschaft versorgen können.
Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis, eine gemeinsame Vorgehensweise und eine gemeinsame Strategie, wie wir zukünftig mit den vulnerablen Personengruppen in unserer Mitte so umgehen, dass würdevolles und autonomes Lebensende möglich ist.
Ausblick: Vision einer neuen Sterbekultur
Die Bemühungen der hospizlich-palliativen Bewegung stehen noch am Anfang. Zukunftsvisionen umfassen:
- Verankerung im Bildungssystem (Schulen, Universitäten)
- Ausbau mobiler Angebote für ländliche Regionen
- Internationale Vernetzung und Wissensaustausch
Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der niemand allein sterben muss. Dafür brauchen wir mutige Menschen, die dieses Thema aus der Tabuzone holen. Und eine mutige Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Grenzen stellt. Die Bewegung hat bereits viel erreicht, aber die wirklich spannende Reise beginnt erst jetzt. Wir stehen an der Schwelle zu einem gesellschaftlichen Wandel, bei dem jeder Einzelne zum Gestalter einer neuen Sterbekultur werden kann.
Konkrete Zukunftsperspektiven:
Digital meets Analog:
Innovative Hybrid-Konzepte kombinieren Online-Selbstlernmodule mit lokalen Praxisgruppen – so wird das Wissen um Palliativ Care und die Netzwerke zur Versorgung am Lebensende noch zugänglicher.
Letzte Hilfe-Kurse für Jedermann:
So wie es vor der Führerscheinprüfung Plicht ist, einen Erste-Hilfe-Kurs zu absolvieren, sollte es auch für jeden Menschen selbstverständlich werden, einen Letzte Hilfe- Kurs zu besuchen.
Städte werden „Caring Cities“:
In Köln gibt es das schon – Nachbarschaften, die gemeinsam Verantwortung für ihre Sterbenden übernehmen. Die meisten deutschen Städte haben bereits ein lebendiges Hospiz- und Palliativnetzwerk.
Wirksame und autonomiestärkende Vorsorgeplanung:
Jeder Mensch sollte sich ab seinem 18. Lebensjahr mit den eigenen Werten und den eigenen Lebensfragen auseinandersetzen. Was bin ich bereit, zugunsten des Überlebens an Autonomie aufzugeben? Wann hat das Leben für mich keinen Sinn mehr? Wie will ich behandelt werden, was will ich auf keinen Fall? Die Antworten helfen bei wichtigen Entscheidungen am Lebensende und in Notfallsituationen den Angehörigen, Entscheidungen ganz im Sinne der Verfügenden zu entscheiden und auch sprachfähig zu sein. Vorsorgeplanung für jeden Menschen, z. B. nach dem Konzept von Advance Care Planning hilft bei der patientenorientierten Haltung und sollte Basis aller Handlungen sein.
In einer Zeit, in der Vereinsamung und Überalterung unsere Gesellschaft prägen, werden diese Initiativen zum sozialen Kitt. Sie zeigen: Mit Kreativität und Herz lässt sich selbst das schwierigste Tabu brechen. Die Message ist klar – Sterben geht uns alle an.
Wie kann ich mitwirken?
- Kurse besuchen: Regelmäßige Angebote unter www.letztehilfe.info und www.wuerdezentrum.de
- Ehrenamt: Möglichkeiten bei gemeinnützigen Institutionen oder Ehrenamtsbörsen in der Kommune
- Spenden: Unterstützung von hospizlich-palliativen Strukturen
- Aufmerksam machen: Gespräche im eigenen Umfeld anregen, Patientenverfügung erstellen
Nähere Informationen unter:
https://www.letztehilfe.info
Konzept-Caring-Community-Köln
https://www.zqp.de
https://www.advancecareplanning.de
Christine Krause
Geschäftsführung Würdezentrum Frankfurt gUG
Kontakt: info@ wuerdezentrum.de
www.wuerdezentrum.de